ICOM Deutschland, Deutsches Zentrum Kulturgutverluste und das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité legen interdisziplinäre Arbeitshilfe zur Provenienzforschung vor
In vielen Museen und Universitäten lagern seit der Kolonialzeit Schädel, Skelettteile, Gebeine. Über den angemessenen Umgang mit diesem sensiblen Sammlungsgut wird aktuell intensiv diskutiert. Häufig ist die Herkunft der sogenannten menschlichen Überreste unklar. ICOM Deutschland, das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste und das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité veröffentlichen nun mit der Arbeitshilfe Interdisziplinäre Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten eine Einführung in wissenschaftlich fundierte Methoden zur Klärung der Herkunft.
Heimlich ausgegraben, gestohlen, erpresst oder unfair erhandelt – während der Kolonialzeit sind unzählige Gebeine meist ohne Zustimmung der Hinterbliebenen entwendet und in museale und wissenschaftliche Sammlungen verbracht worden. „Jahrzehntelang hat es die Forschung und damit auch die Museumswelt versäumt, diese menschlichen Überreste in anthropologischen Sammlungen, insbesondere in ethnologischen Museen, kritisch zu reflektieren“, sagt Beate Reifenscheid, Präsidentin von ICOM Deutschland, „sowie einen würdigen, respektvollen Umgang mit den Verstorbenen zu finden.“ Die aktuelle, wichtige Debatte über das koloniale Erbe in deutschen Sammlungen und Museen gab den Anstoß, eine wissenschaftlich fundierte Arbeitshilfe zu erarbeiten, um den Kolleg*innen eine Einführung in wichtige Methoden und Herangehensweisen der Provenienzforschung an die Hand zu geben.
Durch die Erforschung seiner Provenienz wird hinter einem anonymisierten skelettalen Sammlungsobjekt wieder ein Mensch und im besten Falle eine Lebensgeschichte sichtbar – ein Prozess, der zur Zusammenarbeit mit Nachfahr*innen führen kann und gegebenenfalls in einer Repatriierung und (Wieder-)Bestattung einen würdigen Abschluss findet. Vor diesem Hintergrund versteht sich die Arbeitshilfe als eine praktische Einführung in die Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten. Die Arbeitshilfe ist gedacht für biologisch-anthropologische, anatomische und medizinhistorische Sammlungen menschlicher Überreste vor allem an Universitäten und Museen in Deutschland, ergänzt durch einen Appendix zur Situation in Österreich. Die Interdisziplinarität und das Zusammenspiel der Methoden stehen im Vordergrund. Die Arbeitshilfe enthält ausführliche Hinweise zu historischen und anthropologisch-naturwissenschaftlichen Methoden der Provenienzforschung sowie zur Dokumentation der Rechercheergebnisse. Erörtert werden ebenso die transkulturellen und transnationalen Dimensionen von Provenienzforschung. Zur Veranschaulichung werden in allen Kapiteln Fallbeispiele aufgeführt.
„Das Zusammenspiel naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlich-historischer Methoden und Vorgehensweisen stellt eine besondere Herausforderung für Provenienzforscher*innen dar. Sie kommen in der Regel aus einem der beiden Wissenschaftsbereiche und müssen sich in den anderen Bereich einlesen bzw. einarbeiten. Dabei soll sie diese Arbeitshilfe gezielt unterstützen. Sie erläutert das Potenzial, das in der Verbindung unterschiedlicher Methoden und Ansätze sowie im Austausch mit Expert*innen aus den Herkunftsländern der verstorbenen Individuen und/oder mit deren Nachfahr*innen liegt“, sagt Dr. Larissa Förster, Leiterin des Fachbereichs Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.
Prof. Dr. Thomas Schnalke, Direktor des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité, betont: „Menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten sind in jeder Hinsicht sensible Objekte. Die Recherche ihrer Herkunft erfolgt in aller Regel als Einzelfall-Analyse. Wir freuen uns als Berliner Medizinhistorisches Museum, hierfür zusammen mit unseren Partnern eine hoffentlich hilfreiche, praxisorientierte Handreichung vorlegen zu können.“
„Die Arbeitshilfe liefert einen wichtigen Beitrag zu einem gerechten und angemessenen Umgang mit menschlichen Relikten. ICOM Deutschland dankt den beiden Institutionen für diese wichtige Kooperation und besonders den Autor*innen, die sich mit ihrer wissenschaftlichen Expertise bereits seit vielen Jahren um einen würdigen Umgang und den für alle Beteiligten adäquaten Dialog verdient machen“, führt Beate Reifenscheid, Präsidentin von ICOM Deutschland, aus.
Bibliografische Angaben
Winkelmann, Andreas; Stoecker, Holger; Fründt, Sarah; Förster, Larissa: Interdisziplinäre Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten. Eine methodische Arbeitshilfe des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité und von ICOM Deutschland. Hrsg. von ICOM Deutschland. Heidelberg: arthistoricum.net 2022. 100 S. Beiträge zur Museologie, Bd. 11. eISBN 978-3-98501-028-8.* DOI: https://doi.org/10.11588/arthistoricum.893
*Die Printversion befindet sich in Vorbereitung.
Über die Autor*innen
Larissa Förster ist Leiterin des Fachbereichs „Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.
Sarah Fründt ist wissenschaftliche Referentin am Fachbereich „Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste und Ansprechpartnerin für Provenienzforschung an menschlichen Überresten.
Holger Stoecker ist Historiker und befasst sich mit der afrikanisch-deutschen Kolonial- und Wissenschaftsgeschichte sowie mit Provenienzforschungen zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten.
Andreas Winkelmann ist Professor für Anatomie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg in Neuruppin und forscht zur Geschichte und Ethik seines Fachs.
Pressemitteilung (PDF)
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(© Birgit Scheps, Grassi Museum für Völkerkunde Leipzig, 2018)
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