Es mehren sich in immer kürzer werdenden Abständen die dramatischen Anzeichen, dass der politische Druck auf Museen in unterschiedlichsten Ländern der Welt zunimmt. Dies ist kein aktueller Trend, sondern eine Entwicklung, die sich seit Jahren zuspitzt, insbesondere während der beiden vergangenen Jahre und aktuell. Im Schatten der Pandemie verschärfen sich die politischen Eingriffe in die wissenschaftliche Autonomie, die jedoch oftmals kaum von der Gesellschaft wahrgenommen werden.
Mittlerweile erreicht ICOM Deutschland besorgniserregende Nachrichten aus zahlreichen Ländern: aus Ungarn, Polen, der Türkei, Brasilien, den USA und aktuell aus Belarus. In all diesen Staaten wird die politische Macht genutzt, um auf breiter Ebene systemkonforme Strukturen zu schaffen und Wissenschaftler*innen, die kritisch denken und handeln, mundtot zu machen. Dies geht einher mit gezielt gesteuerten Entlassungen von Wissenschaftseinrichtungen, in Akademien, Universitäten und Museen, die sowohl politisch wie auch finanziell unter Druck gesetzt werden. Unliebsame Wissenschaftler*innen, die sich als zu demokratisch orientiert erweisen und unter Verdacht stehen, nicht systemkonform zu sein, werden kurzerhand entlassen. Belege für angebliches Fehlverhalten werden konstruiert, um scheinbar eine Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen nachweisen zu können.
Es ist ein breit angelegter Angriff auf die Kultur(en) insgesamt: auf das kulturelle Erbe, bestimmte Ethnien, bestehende Kulturstätten, auf Museen, ihre Sammlungen und ihre Museumsmitarbeiter*innen sowie auf die freien Künste und Wissenschaften. Autokratisch geführte Staaten dirigieren bis in die Unterrichtseinheiten hinein.
Nach Ungarn, Polen und der Türkei ist als jüngste Entwicklung nun die Entlassung zahlreicher Museumsmitarbeiter*innen im von Deutschland weniger als Tausend Kilometer entfernten Belarus zu benennen. Zu den Betroffenen gehört die Gründerin und langjährige Kuratorin des Museums des jüdischen Widerstands in Novogrudok, Tamara Veršickaja. Sie hatte sich aktiv an den Protesten gegen die massiven Wahlfälschungen beteiligt und verliert nun im April ihre Arbeit. Die Nichtverlängerung ihres Vertrags nach drei Jahrzehnten musealer Aufbauarbeit ist Teil einer systematischen staatlichen Repressionswelle gegen Kulturschaffende. Während Tamara Veršickaja vor hat in Novogrudok ihre Beschäftigung mit der Geschichte jüdischen Widerstands fortzusetzen, bleibt vielen Museumsfachleuten aus der Republik Belarus derzeit nur das Exil als Alternative zur Inhaftierung. Damit einher geht bei einem Dutzend Kolleg*innen der Verlust der Heimat und einer Perspektive im eigenen Land, aber auch die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse sowie die existenzielle Suche nach einem Neuanfang im Ausland. Die Nachbarländer Litauen und Polen haben ebenso wie Deutschland Unterstützung zugesagt und setzen bereits einzelne Programme zur Stärkung der Zivilgesellschaft um. Die Kolleg*innen lassen sich nicht von ihrem Kurs abbringen und setzten sich weiter für die Freiheit von Wissenschaft und Kultureinrichtungen in Belarus ein. Es ist an uns, in dieser Situation Solidarität zu zeigen, bestehende Kontakte zu pflegen und Betroffene zu unterstützen, wo es möglich ist.
Hierzu gehört ein klares, uneingeschränktes Bekenntnis zur Autonomie der Künste und der Freiheit der Wissenschaften. Kunst und Kultur müssen für eine pluralistische Weltgemeinschaft offen sein und die zuständigen Institutionen einen universellen Zugang zu Wissen garantieren. Kulturelle Bildung und die Tradierung des materiellen wie auch immateriellen kulturellen Erbes sind wesentlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Verständigung über Landesgrenzen hinweg. Kulturelle, gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Netzwerke sollen auch in Zukunft über Staatengrenzen hinweg tragfähig sein und einem friedlichen Europa dienen, dem auch Belarus angehört.
ICOM setzt hiermit ein deutliches Zeichen und bittet um breite Unterstützung für bedrohte Museen, Museumsmitarbeiter*innen sowie Künstler*innen und Wissenschaftler*innen.
Für die entlassenen Museumskolleg*innen in Belarus bitten wir um einen Solidaritätsbeitrag, der für die erste Zeit im Exil dringend benötigt wird.
Auch diesen Appell unterstützen wir nachdrücklich:
https://www.osteuropa-historiker.de/links/spendenaktion-minsk-protokolle/
Zu weiteren Information:
https://hyperallergic.com/615519/artwashing-a-dictatorship/
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/ungarn-regierungstheater
https://www.derstandard.de/story/2000115342170/ungarns-forschung-unter-druck-ein-umbau-mit-folgen
https://www.monopol-magazin.de/jochen-volz-ueber-brasilien-unter-bolsonaro